Beiträge und Archiv
Trost und Zuflucht im Glauben
Im Bistum Dresden-Meißen fanden Tausende katholische Vertriebene eine neue Heimat
Im Juni 2021 konnte das katholische Bistum Dresden-Meißen den 100. Jahrestag seiner Wiedererrichtung begehen. Grund zum Feiern hatten auch die katholischen Vertriebenen in Sachsen und im östlichen Thüringen, haben sie ihre Kirche doch seit 1945 entscheidend mitgeprägt. Etwa drei Viertel der Katholiken, die heute zwischen Altenburg und Zittau leben, sind Heimatvertriebene oder Nachkommen von Vertriebenen.
Das heutige Bistum Dresden-Meißen – so die offizielle Bezeichnung seit 1980 – umfasst das links der Neiße gelegene Gebiet Sachsens in den Grenzen von 1815 sowie das östliche Thüringen.
Vorläufer der heutigen Diözese war das mittelalterliche Bistum Meißen, das 968 im Zuge der deutschen Ostkolonisation errichtet wurde und in der Reformationszeit bis auf einen Restteil in der Lausitz untergegangen ist.
Als das Bistum 1921 zu neuem Leben erweckt wurde, war es die ärmste Diözese in Deutschland, lebten hier doch lediglich 180.000 Katholiken. Ein Vierteljahrhundert später strömten etwa eine halbe Million katholische Flüchtlinge und Vertriebene nach Sachsen und in das östliche Thüringen.
Sie kamen vor allem aus Schlesien, dem ostpreußischen Ermland, dem Sudetenland und den ungarndeutschen Siedlungsgebieten. Bis 1949 wuchs die Zahl der katholischen Christen im Bistumsgebiet auf 700.000 an.
Durch den Zustrom von Gläubigen wandelte sich die katholische Kirche in Sachsen zu einer „Flüchtlingskirche“ und stand vor einer Vielzahl von pastoralen und caritativen Herausforderungen. In ihren neuen Kirchgemeinden fanden die Vertriebenen Trost und Zuflucht.
Sie konnten in kirchlichen Räumen Bräuche aus ihren Heimatgebieten pflegen und sich bei großen Wallfahrten treffen. Auf eine spezifische Vertriebenenseelsorge musste jedoch aufgrund der politischen Verhältnisse in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR weitgehend verzichtet werden. Besondere Regelungen gab es nur in der Zeit von 1948 bis 1951 für die vertriebenen Ungarndeutschen.
Die meisten der Priester, die im Bistum in den letzten 75 Jahren geweiht worden sind, kommen aus Vertriebenenfamilien oder haben noch selbst die Vertreibung miterlebt. Über Jahrzehnte wurde die katholische Kirche in Sachsen und Ostthüringen durch zwei Bischöfe geprägt, die aus Schlesien stammten: Gerhard Schaffran (1912 – 1996) und Joachim Reinelt (geb. 1936).
Durch das allmähliche Wegsterben der „Erlebnisgeneration“ und den grundlegenden gesellschaftlichen Wandel ist die Zahl der Gläubigen im Bistum Dresden-Meißen auf etwa 140.000 zurückgegangen. Zu bewahren, was die Vertriebenen einst in ihrem „geistlichen Fluchtgepäck“ mitgebracht haben, bleibt eine Aufgabe und Herausforderung für die Nachgeborenen.
Einen ausführlichen Beitrag zum Thema, der im Deutschen Ostdienst Nr. 3/2021 veröffentlicht worden ist, können Sie hier nachlesen.
Peter Bien
Druckfrisch: Unser Liederbuch
Nun ist es geschafft! Die Stiftung „Erinnerung, Begegnung, Integration – Stiftung der Vertriebenen im Freistaat Sachsen“ hat das „Liederbuch der Deutschen aus dem östlichen Europa“ herausgebracht.
Druckfrisch liegt es jetzt vor. Diese Sammlung vereint die Texte und Noten von 143 Liedern, die von den Vertriebenen und Spätaussiedlern im Freistaat Sachsen gesungen werden und zu unserem kulturellen Erbe gehören. Viele Heimatgebiete sind vertreten, sogar das kleine Siedlungsgebiet der Deutschen in der Dobrutscha. Bedauerlich ist nur, dass anders als in dem vergriffenen Buch „Lieder der unvergessenen Heimat“ aus dem Heyne Verlag die Heimatgebiete der Deutschen aus Polen, der
Slowakei und der Bukowina nicht berücksichtigt wurden.
Das neue Liederbuch soll zukünftig die Treffen und Veranstaltungen der Spätaussiedler und Vertriebenen in Sachsen begleiten. Es wird gegen eine Spende von zehn Euro von Frau Claudia Florian, Landesgeschäftsführerin des Landesverbandes der Vertriebenen und Spätaussiedler im Freistaat Sachsen/Schlesische Lausitz, Heinrich-Heine-Straße 6A, 02977 Hoyerswerda, ausgegeben oder kann per Mail (c.florian-lvs@t-online.de) bestellt werden.
Red.

Ministerpräsident Michael Kretschmer überreicht Bundesverdienstkreuz an Friedrich Zempel

Im Rahmen einer Feierstunde in der sächsischen Staatskanzlei hat Ministerpräsident Michael Kretschmer am 7. Juli Friedrich Zempel mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, das ihm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verliehen hat.
In seiner Laudatio führte Ministerpräsident Kretschmer aus, dass Friedrich Zempel sich seit einer Reihe von Jahren in vielfältiger Weise um die Belange der Vertriebenen und Spätaussiedler und der Studenten aus den Mittel- und osteuropäischen Staaten verdient gemacht habe.
In einer Mitteilung an die Vorstände der Organisationen der Vertriebenen und Spätaussiedler in Sachsen erklärte der Geehrte, dass er diese Ehrung als Würdigung der gemeinsamen Arbeit betrachte. Seine Arbeit sei nur ein Teil des großen gemeinsamen Projektes, die Kultur der deutschen Siedlungsgebiete im Osten, die Erinnerung an diese Gebiete und die Begegnung mit den heutigen Bewohnern zu pflegen.
Red.
„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit.“
Ein Advents- und Weihnachtslied aus Ostpreußen
Das Adventslied „Macht hoch die Tür,...“. von Georg Weissel steht unter der Nummer 1 im Evangelischen Gesangbuch für Sachsen. Offenbar waren die Herausgeber der Auffassung, dass dieses Lied in Text und Melodie besonders ansprechend ist. Diese Einschätzung teilen viele Kirchenbesucher nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Insbesondere in den USA gehört dieses Lied zu den beliebtesten Advents- und Weihnachtsliedern. Die meisten Freunde dieses Liedes wissen aber nicht, dass der Dichter, Georg Weissel, in Ostpreußen geboren wurde und vor allem in Königsberg gewirkt hat. Dort gehörte er zu dem Dichterkreis „Königsberger Kürbishütte“ um Heinrich Albert und Simon Dach, dem Schöpfer des Liedes „Ännchen von Tharau“. Mehr über George Weissel und den Dichterkreis berichtet uns Pastor Matthias Koch in einem Aufsatz, den Sie hier herunterladen können.
Red.
Von Schlesien nach Madrid
Ein Mädchen erlebt Flucht und Vertreibung
Hannelore S. wurde 1936 in Oberschlesien geboren. Sie erlebte eine behütete Kindheit. Auch der Beginn des Zweiten Weltkrieges hinterließ im Gedächtnis des Kindes keine besonderen Spuren. Sie erinnert sich lediglich, dass in ihrem Dorf häufig Soldaten zu sehen waren.
Die Einberufung ihres Vaters war der erste Einschnitt in ihre Kinderwelt. Viele Jahre später erfuhr sie, dass er in der russischen Kriegsgefangenschaft gestorben war.
Bei Kriegsende begann für sie mit der Flucht aus Oberschlesien eine Odyssee durch viele europäische Länder. Ende der Sechzigerjahre wurde sie in Spanien heimisch. Kontakte in ihre schlesische Heimat pflegte sie immer weiter.
Ihr bewegtes Leben als Vertriebene schilderte sie vor kurzem dem Vorsitzenden des Vereins Erinnerung und Begegnung e.V., Friedrich Zempel, in einem Interview, das wir in dem Abschnitt Aufsätze/Beiträge eingestellt haben.
f.z.

Die Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa
im und nach dem Zweiten Weltkrieg Ausgewählte Fakten
Vor 75 Jahren erlebten die Deutschen in Mittel- und Osteuropa den Höhepunkt ihrer Vertreibung. In der vorangegangenen Aktualisierung hatten wir bereits einige Zeitzeugenberichte veröffentlicht. Weitere Berichte werden wir noch veröffentlichen. Gespräche zeigen immer wieder, dass die Dimension der Vertreibung sogar den Vertriebenen bzw. deren Nachkommen nicht bekannt ist. Daher haben wir in einem Aufsatz die wichtige Fakten zusammengefasst. Sie können ihn unter dem nachfolgenden Link lesen.
75 Jahre Konferenz von Potsdam
Als man versuchte,
den Teufel durch Beelzebub auszutreiben.
Vortrag von Friedrich Zempel,
Vorsitzender des Vereins Erinnerung und Begegnung e.V.,
18. August 2020, 13:00 Uhr,
Freiberg, Gastsätte Brauhof
Einen Vorabdruck seines Vortrages können Sie hier herunterladen.
„Hannahs Verlies“ – Ein Roman von Andreas H. Apelt
Ein Roman über das
dramatische Schicksal einer vertriebenen Familie
Rezension von Prof. Dr. Anton Sterbling, Mitglied im Kuratorium der Stiftung Erinnerung, Begegnung, Integration – Stiftung der Vertriebenen im Freistaat Sachsen
Andreas H. Apelt hat eine ganze Anzahl verschiedener Professionen ausgeübt. Er war Handwerker, Kulturschaffender, Wissenschaftler, Dichter, Schriftsteller, Politiker. Seine Lebensstationen sind aber nicht Stufen auf einer Karriereleiter, sondern sie zeugen von seinem Ringen um Wahrheit und Menschlichkeit. Aus dieser Einstellung heraus hat er auch seinen neuesten Roman „Hannahs Verlies“ verfasst. Eine ausführliche Rezension von Prof. Dr. Anton Sterbling finden Sie hier.
Prof. Dr. W. Schirotzek – Ein Preuße durch und durch
In diesen Tagen kann Professor Dr. Winfried Schirotzek seinen 80. Geburtstag feiern. Der Unterzeichner möchte dies Ereignis zum Anlass nehmen, ihm für seine Verdienste um die Arbeit der Vertriebenen und Spätaussiedler in Sachsen zu danken.
Winfried Schirotzek wurde am 7. September 1939 in Breslau geboren. Er war das einzige Kind seiner Eltern. Im Januar 1945 musste seine Mutter mit Winfried Breslau verlassen. Sein Vater fiel noch kurz vor Kriegsende in Schlesien. Nach der Flucht kamen Mutter und Sohn zunächst in Thüringen unter. Hier erlebte er, was viele Vertriebene erlebten. Man hatte nichts, galt nichts und war von seinen Verwandten und Freunden getrennt. Schon als Schüler begriff Winfried Schirotzek, dass er mehr leisten musste als die, die ihre Heimat nicht verloren hatten, wenn er sein Leben meistern wollte. Jahrzehnte später hat er sich offenbar an diese Zeit erinnert; denn er war es, der für eine unserer Wanderausstellungen den Namen vorschlug “Integration durch Leistung“.
1957 begann er in Dresden ein Mathematikstudium. Gleich zu Beginn des Studiums lernte er seine spätere Frau Irmtraut kennen. Auch sie war Schlesierin. Das war sicherlich kein Zufall. Beide verband nicht nur das gemeinsame Schicksal als Vertriebene, sondern auch die schlesische Lebensart. Auch seine Frau hat sich vorbildhaft engagiert, wie wir bereits in früheren Ausgaben berichtet haben.
Im Studium zeichnete sich Winfried Schirotzek nicht nur durch Intelligenz, sondern auch durch Fleiß aus. 1967 legte er seine Promotion ab und begann eine wissenschaftliche Forschungs-und Lehrtätigkeit an der technischen Universität Dresden. 1977 schloss sich seine B-Promotion an. Damit hatte er die formalen Voraussetzungen für eine Berufung auf eine Professur erfüllt. Es fehlten jedoch die politischen Voraussetzungen. Er war weder Mitglied der SED noch bereit, die Kontakte zu seinen Verwandten in Westdeutschland abzubrechen. Erst nach der Wiedervereinigung erfolgte seine Berufung auf eine Professur.
Während seiner Lehrtätigkeit verfasste Dr. Schirotzek mehrere fachwissenschaftliche Standardwerke, die noch heute von den Studenten benutzt werden. 2007 erschien das wissenschaftlich Hauptwerk von Prof. Dr. Schirotzek, "Nonsmooth Analysis", in englischer Sprache.
Seit seinem Eintritt in den Ruhestand engagierte er sich in den Verbänden der Vertriebenen und Spätaussiedler in Sachsen. Er arbeitete mit an der Erstellung der Wanderausstellungen "Unsere neue Heimat – Sachsen" und "Integration durch Leistung". Für beide Ausstellungen hielt er mit seiner Ehefrau mehrere Einführungen.
Der Wissenschaft blieb er weiter verbunden, allerdings auf einem anderen Gebiet als der Mathematik. Er wandte sich der Geschichte der Heimatgebiete der Vertriebenen und Spätaussiedler zu. Im vorigen Jahr erschien eine Darstellung der Ostsiedlung. Für die Zeitung des Landesverbandes der Vertriebenen im Freistaat Sachsen/Schlesische Lausitz verfasste er eine Reihe von Artikeln.
Nachdem 2009 die zentrale Heimatstube in Reichenbach bei Görlitz gegründet worden war, übernahm er dort die Funktion des Kurators. Aus mehr zufälligen gesammelten Exponaten schuf er zusammen mit seiner Frau Irmtraut das Haus der Heimat. Für die Besuchergruppen, insbesondere Schulklassen, hielt er Einführungsvorträge. Außerdem unterstützte er seine Frau bei der Sammlung, Ergänzung und wissenschaftlichen Aufbereitung von rund 200 Fluchtberichten von Vertriebenen, die in Sachsen eine Aufnahme gefunden haben.
Seine große Leistung ist aber, dass er stets bereit ist, sämtliche in einem Verein anfallenden Aufgaben zu übernehmen. Er hält Festrede, wissenschaftliche Vorträge, stellt Stühle auf, fungiert als Lektor für Freunde in den Vertriebenenvereinen und übernimmt Vorstandsämter, wenn kein anderer bereitsteht, und ist Berater in vielen Angelegenheiten.
Ende letzten Jahres musste Prof. Dr. Schirotzek aus gesundheitlichen Gründen die Leitung des Hauses der Heimat abgegeben. Dafür konzentriert er sich jetzt auf seine anderen Aufgaben und Funktionen.
In der Vereinsarbeit hat sich Professor Dr. Schirotzek ausgezeichnet durch die hohe Qualität seiner Arbeit. Wir haben ihm viel zu verdanken und danken ihm gerne. Wir alle schätzen ihn wegen seiner Bescheidenheit, Verlässlichkeit, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. Weil dies auch “höheren Orts“ so gesehen wird, wurde ihm am 13. April d. J. die goldene Ehrennadel des BdV-Bund verliehen.
Preußen als Staat ist zwar untergegangen. Der preußische Geist lebt aber fort in Menschen wie Winfried Schirotzek.
Friedrich Zempel

Ein Großer aus Breslau/Schlesien - Der Theaterkritiker Dr. Alfred Kerr
Alfred Kerr, so sein späteres Pseudonym, wurde am 1.Weihnachtstag 1867 in Breslau als Sohn des Weinhändlers Emanuel Kempner, jüdischen Glaubens, geboren.
Alfred wuchs im Zentrum der schlesischen Hauptstadt gegenüber dem Stadttheater, dessen Architekt der berühmte Carl Gotthardt Langhans war, in gutsituierten bürgerlichen Verhältnissen auf. Mag sein, dass die räumliche Nähe des Theaters, mit all den Zu- und Ausgängen der Bühne, der Schauspieler, Musiker und des festlichen Publikums, das Kind stark beeinflußte - jedenfalls liebte der Schüler schon Mozarts Musik und Schillers Dramen.
Im Deutschunterricht war ihm der Deutschlehrer Zimpel ein enormes Vorbild und schon im Gymnasium um 1883 - wohl in der Untersecunda - wollte Alfred Schriftsteller werden und den Namen "Alfred Kerr" annehmen. Grund dafür war, dass er nicht mit der populären Dichterin Friederike Kempner in Zusammenhang gebracht werden wollte. Er realisierte sein Pseudonym aber erst 1897 mit dem Kürzel: "A.K.".
Nach dem Schulabschluß ging er 1887 nach Berlin, studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie. Er begeisterte sich für die Dramen von Gerhart Hauptmann bei deren Uraufführungen im schlesischen Dialekt, wie z.B. "De Waber" oder "Dar Bibapelz".
Kerr verstand natürlich das Gebirgsschlesische und Hauptmanns Naturalismus besser als die Berliner. Ein Idol war ihm auch Henrik Ibsen, der in Gesellschaftsdramen die Brüchigkeit von Gesellschaftsmoral und "Lebenslüge" in allen Formen aufdeckte.
Als Student verfasste er erste Theaterkritiken. Er schrieb 5 Jahre für die heimatliche "Breslauer Zeitung" Berichte aus Kultur und Gesellschaft.
Ab 1900 wurde er die dominierende Stimme in Berliner Zeitungsfeuilletons und blieb es bis zur Machtergreifung Hitlers. Bis 1919 schrieb er für die Zeitung "Der Tag"(=Berliner Tag) und für das "Berliner Tageblatt", die "Frankfurter Zeitung" bis 1933 und 25 Jahre auch für die "Königsberger Allgemeine Zeitung", wobei Kerr das Berliner Theaterleben durch oft bissig-pointierte Theaterkritiken prägte. Daneben gab er seit 1911 eine Literatur-und Kunstzeitschrift "PAN" heraus. Er fühlte sich "besessen von dem Drang, Stellung zu nehmen". Der Kritiker war für ihn ein Wahrheitssager. - Sein Selbstbewußtsein dominierte in seinem Satz: "Dichter haben keine Sprachkraft. Sprachkraft ist in der Kritik."
Derjenige Dramatiker, Inspizient, Regisseur oder Intendant, der bei einer Uraufführung sein Lächeln hatte, wie z.B. Carl Zuckmayer im Jahre 1925 bei "Der fröhliche Weinberg", hatte auf den Brettern der Welt gewonnen. Man kann Kerr als Großkritiker der Weimarer Republik bezeichnen. - Nebenbei schrieb er auch seit 1897 bis 1922 für die "Königsberger Allgemeine Zeitung" eine Sonntagskolumne, "Berliner Plauderbriefe", als berühmt-berüchtigter "A.K.". 1000 Stück soll er für das ostpreußische Blatt geschrieben haben.
(Die Kerr-Biographin Deborah Vietor-Engländer hat in "Alfred Kerr: Die Biographie" (rororo-Verlag 2016) über seine Tätigkeit umfangreich berichtet). Anfang 1933 hatte sich Kerr mit den Nationalsozialisten publizistisch angelegt. Mit Glossen rief er im Berliner Rundfunk zur Bekämpfung der NSDAP auf, so dass ihn Goebbels rasch auf eine Schwarze Liste setzte.
Im Februar 1933 mußte er nach Prag fliehen, dann über die Schweiz nach Paris. Seine Frau, Tochter Judith und Sohn Michael flohen ihm nach. Im Exil schrieb er sogleich für diverse Zeitungen, aber fand nicht den erhofften Anklang. Für ein Filmdrehbuch über Napoleons Mutter war in Frankreich kein Interesse, so dass seine Familie verarmte.
Nach seiner Weiterflucht nach England konnte Kerr immerhin sein Drehbuch verkaufen und alsdann wenigstens seine Kinder nachholen. Schwer war es, weil er kein Englisch sprechen konnte, sodass die Familie in einem billigen Hotel in London leben mußte.
Aus dem Exil kritisierte er seinen einstigen Schützling und schrieb über Gerhart Hauptmann: "Sein Andenken soll verscharrt sein unter Disteln", da sich G.H. den Nazis angebiedert habe. Das war sehr emotional und unklug, denn der integre G.H. war ein weltbekannter Nobelpreisträger. –
Tochter Judith begann mit schriftstellerischer Arbeit und machte sich letztlich weltweit einen Namen. Seinen Sohn Michael liess A.K. Jura studieren, der später einer der obersten Richter Englands und geadelt wurde.
1941 wählte man "A.K." zum Präsidenten des P.E.N.-Clubs im Exil, aber erst 1947 erhielt er die britische Staatsbürgerschaft. 1948 kehrt er zu einer Vortragsreise nach Deutschland zurück. In Hamburg erlitt er nach einem Theaterbesuch einen Schlaganfall und konnte nicht mehr schreiben.
So setzte er mit Schlaftabletten am 12. Oktober 1948 seinem lange glänzendem, später verarmtem und doch wieder sich verbesserndem - wirklich so reichen - Leben ein Ende. In Hamburg-Ohlsdorf erhielt der große Schlesier Alfred Kerr seine letzte Ruhestätte.
Das "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel" stiftet seit 1977 den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik und alljährlich vergibt die von seinen Kindern gegründete "Alfred-Kerr-Stiftung" in Zusammenarbeit mit der Zeitung "Der Tagesspiegel" einen Preis für Nachwuchsschauspieler. –
Einige Buchtitel des Autors Kerr: "Die Harfe"(1917), "Die Welt im Drama"(1917), "Die Welt im Licht"(1920), "Der Krämerspiegel"(12 Gedichte vertont von R. Strauß; 1921), "O Spanien"(1924), "Caprichos" (1926), "Es sei wie es wolle"(1928), "Was wird aus Deutschlands Theater"(1932).
Wolfgang Liebehenschel, Schlesier aus Görlitz (Basisdaten aus: Brockhaus 1979; Der Tagesspiegel Berlin; Wikipedia; Preußische Allgemeine Zeitung v. 22.12.2017; eigene Recherchen)
Zeitzeugenberichte der Vertriebenen und Spätaussiedler aus Sachsenwurden online gestellt
Nach der Wiedervereinigung haben viele Vertriebene und Spätaussiedler Zeitzeugenberichte über Flucht, Vertreibung und die Aufnahme in Sachsen niedergeschrieben und teilweise auch mit Urkunden versehen. Mehrere hundert Berichte wurden dem Haus der Heimat in Reichenbach/schlesische Lausitz zur Verfügung gestellt. Unsere Mitglieder, Frau Ira Schirotzek und Mario Morgner, haben diese Berichte in weit über 1000 Arbeitsstunden archiviert, systematisiert, mit Schlagworten versehen und in den vergangenen Monaten online gestellt. Auf der Internetseite
http://zeitzeugenberichte.vertriebene-in-sachsen.de
können diese Berichte nach einer vorangegangenen einfachen Autorisierung durch den Administrator Mario Morgner eingesehen werden.
In Memoriam Lew Kopelew
Mitleid mit dem Feind
Menschliches, humanes Verhalten ist in allen Kriegen eine sehr seltene Ausnahme. Um so wichtiger ist es, der wenigen Menschen zu gedenken, die auch unter extremen Bedingungen dieses Verhalten zeigen. Zu diesen Wenigen gehörte Lew Kopelew, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährte.
Lew Kopelew wurde am 9. April 1912 als Sohn jüdischer Eltern in der Nähe von Kiew geboren. Durch sein deutsches Kindermädchen lernte er die Liebe zur deutschen Sprache und Kultur. Nach einem Germanistikstudium und arbeitete er als Dozent. Bei Kriegsbeginn meldete er sich freiwillig und erlangte einen Offiziersrang.
Mit den vorrückenden russischen Truppen wurde Lew Kopelew mit den entsetzlichen deutschen Verbrechen an der russischen und jüdischen Zivilbevölkerung konfrontiert. Er hatte es bis dato nicht für möglich gehalten, dass die deutsche Kulturnation, der er so große Wertschätzung entgegenbrachte, zu diesen unmenschlichen Grausamkeiten fähig war. Als er mit seiner Einheit nach Ostpreußen kam, erlebte er die Rache der Sieger an der ostpreußischen Zivilbevölkerung. Trotz der deutschen Verbrechen versuchte er, unter Lebensgefahr zu Gunsten der ostpreußischen Menschen einzugreifen. Dies war nicht im Sinn der Militärführung. Er wurde inhaftiert und wegen "Mitleid mit dem Feind" zu zehn Jahren Straflager verurteilt.
Nach seiner Entlassung wirkte er in Moskau als Dozent für deutsche Literaturwissenschaft. Seine Erlebnisse in Ostpreußen und der anschließenden Lagerhaft verarbeitete er in dem Buch "Aufbewahren für alle Zeit".
1981 bürgerte die SU Lew Kopelew während einer Auslandsreise in die BRD aus. Er blieb in Deutschland. Als Wissenschaftler und Literat widmete er sich den deutsch-russischen Kulturbeziehungen und schrieb mehrere Bücher zu diesem Thema. Lew Kopelew verstarb am 18. Juni 1997 in Köln.
Von sich selbst sagte Lew Kopelew, "Ich bin keine Regimekritiker. Ich bin ein Literat der ein Gewissen hat. Ich trete nicht gegen ein Regime auf, sondern für Menschen" (ein). Alle Deutsche, vor allem alle Ostpreußen, sollten ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Friedrich Zempel
Anmerkungen zu der Charta der Heimatvertriebenen aus Anlass der im Juni 2014 vom sächsischen Landtag beschlossenen Einführung eines Gedenktages an die Vertreibung
Rechtsanwalt Friedrich Zempel
Die Einführung eines Gedenktages wurde in verschiedenen öffentlichen Stellungnahmen kritisiert, weil die Vertreibung als historisch abgeschlossenes Ereignis und die Tätigkeit der Vertriebenenverbände als Belastung für gute nachbarschaftliche Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern angesehen wird. Vielfach wurde die am 5. August 1950 von den Spitzen der Vertriebenenverbände in der BRD verabschiedete Charta der Heimatvertriebenen zur Begründung herangezogen. Daher werden nachfolgend einige Gedanken über die Charta dargelegt, um einen Beitrag zu einer objektiveren Bewertung zu leisten.
Bereits im November 1949 begannen die Spitzenverbände der Vertriebenen mit den Vorbereitungen zur Verabschiedung einer "Magna Charta der Vertriebenen“. Am 5. August 1950, dem Jahrestag der Potsdamer Konferenz, wurde die "Charta der Heimatvertriebenen“ verabschiedet, in der die Vertriebenen unter anderem
- auf Rache und Vergeltung und damit auf eine Vertreibung der inzwischen in ihren Heimatgebieten angesiedelten Bevölkerung verzichteten,
- ein Bekenntnis zu einem auf friedlichem Weg vereinigten Europa abgaben und
- die Anerkennung des Rechts auf Heimat als Grundrecht der Menschheit forderten.
Angesichts der weltweiten Konflikte - in Europa auf dem Balkan und in der Ukraine, im nahen Osten und in vielen afrikanischen und asiatischen Staaten - ist es wichtig, die Verabschiedung der Charta als Beitrag zu einem friedlichen Miteinander in Mitteleuropa und Vorbild für die Konfliktparteien in anderen Teile der Welt zu würdigen.
Aus der westdeutschen Nabelschau war der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 beendet und es konnte mit dem Aufbau demokratischer staatlicher Strukturen und der Bewältigung der wirtschaftlichen Kriegsfolgen begonnen werden.
Die weltpolitische Realität sah jedoch anders aus.
In Korea, China, Indonesien, Indochina, auf dem gesamten indischen Subkontinent, in Palästina und in den Maghrebstaaten wurden weiterhin Kriege geführt und Menschen aus ethnischen oder religiösen Gründen verfolgt und vertrieben. Keiner dieser Konflikte wurden bis heute durch eine auf Dauer angelegte Friedensordnung endgültig beendet. Vielmehr sind viele weitere Konfliktherde, insbesondere in Afrika aber auch auf den Philippinen, hinzugekommen. Fast täglich erreichen uns Meldungen über diese kriegerischen Auseinandersetzungen und Vertreibungen.
Auch in Ostmitteleuropa war nach dem 8. Mai 1945 der Frieden keineswegs gesichert. Die SU begann in den von ihr besetzten Ländern ihre stalinistische Ideologie durchzusetzen. Politische Gegner und Menschen, die als Kapitalisten galten, wurden gesellschaftlich kaltgestellt und verfolgt. Hunderttausende flohen in das westliche Ausland. In Griechenland brach ein Bürgerkrieg aus, der erst kurze Zeit vor der Verabschiedung der Charta der Heimatvertriebenen beendet werden konnte.
Die Weltpolitik Ende der vierziger Jahre zeigte deutlich, dass in anderen Teilen der Welt die Vertriebenen nicht nur nach Wiedergutmachung strebten,
sondern wegen der erlittenen Verluste eine geringe Hemmschwelle hatten, Rache zu verlangten.
Sie zeigte, dass Vertreibungen kein adäquates Mittel zur Lösung politischer Konflikte sind.
Es bestand daher in der BRD ein breites gesellschaftliches Interesse, dass sich die Vertriebenen zu einer Friedensordnung bekennen. Aus diesem Grund
wurden die Vertriebenen bei der Vorbereitung der Charta durch die bestimmenden gesellschaftlichen Kräfte der neu gegründeten Bundesrepublik sowie
die Westalliierten unterstützt.
Rückblickend muss man sich fragen, warum in der BRD trotz dieser zunächst vorhandenen großen gesellschaftlichen Übereinstimmung wenige Jahre später ein Prozess der Entfremdung zwischen den Vertriebenen und den maßgeblichen gesellschaftlichen Kräften begann, der mit der "Neuen Ostpolitik“ Anfang der siebziger Jahre seinen Höhepunkt erreichte und sie als undemokratisch und friedensfeindlich diffamierte. Diese Entfremdung dauert seither an. Wenn die Diskriminierung der Vertriebenen in der öffentlichen Diskussion einen immer geringeren Raum einnimmt, so ist dies nicht auf ein Umdenken zurückzuführen, sondern nur auf das langsame Aussterben der Generationen, die die Vertreibung noch selbst erlebt haben und die immer geringer werdende Bedeutung der Vertriebenen für das öffentliche Leben.
Die Vertriebenen fühlten sich in der BRD zunehmend vernachlässigt. Die Charta enthielt nicht nur die bereits erwähnten politischen Bekenntnisse zu
Frieden, Versöhnung und einem geeinten Europa, sondern auch sozialpolitische Forderungen im Hinblick auf ihre Integration in das Berufs- und
Wirtschaftsleben. Diese Forderungen wurden nie angemessen erfüllt.
Lange Jahre wurden entsprechende Forderungen mit dem Verweis auf die als möglich dargestellte Rückkehr in die Heimat abgewiegelt. Beispielsweise
kämpfen bis heute die noch überlebenden Zwangsarbeiter um eine Entschädigung.
Als die öffentliche Meinung viel zu spät begann, sich mit dem Holocaust und der deutschen Schuld an dem Ausbruch des 2. Weltkrieges und der während des Krieges Verbrechen auseinanderzusetzen, wurde die Vertreibung der Deutschen als notwendige Folge dieser Verbrechen angesehen. Es wurde die Gleichung aufgestellt, wer die Vertreibung nicht als notwendige Folge der deutschen Verbrechen ansieht und damit alle Gedanken an eine Rückkehr in die Heimat für völlig ausgeschlossen erklärt, der billigt die deutschen Verbrechen und stellt sich somit außerhalb des Konsenses aller anständigen Bürger. Die Vertriebenen, die die Vertreibung nicht als Strafe anerkennen wollten, wurden als Störenfriede angesehen.
Die Vertriebenen gewannen den Eindruck, dass sie mit dem Verlust ihrer Heimat als billige Opfer für die Verbrechen zahlen sollten, für die alle Deutsche verantwortlich waren.
Zu ihrer Rechtfertigung konnten die Vertriebenen darauf verweisen, dass die Vertreibung nur im Machtbereich des Stalinismus stattgefunden hatte. Westliche Länder wie Belgien, in denen während zweier Weltkriege von Deutschen entsetzliche Verbrechen begangen worden waren, hatten ihre deutsche Minderheit nicht vertrieben und keine Gebietsabtretungen als Entschädigung von Deutschland verlangt. Vielmehr wurden viele Kinder von Vertriebenen bereits kurz nach dem Krieg von belgischen, holländischen und dänischen Familien während der Ferien aufgenommen, um sie körperlich und seelisch gesunden zu lassen.
Gegen das Argument, Störenfriede bei dem Genuss des westlichen Wohlstandes zu sein, machten die Vertriebenen gelten, dass sie es waren, die seit dem Ende der sechziger Jahre durch viele Besuche in der alten Heimat Kontakte zu den heutigen Bewohnern und den östlichen Nachbarvölkern geknüpft hatten. Sie hatten erfahren wie wenig sich diese Menschen mit dem kommunistischen System identifizierten und wie schlecht die Versorgungslage dort war. Die Vertriebenen konnten darauf hinweisen, dass – obwohl sie zu den Schichten mit einem unterdurchschnittlichen Einkommen gehörten – durch vielseitige Hilfslieferungen in den Ostblock das deutsche Ansehen verbessert hatten.
Diese Fakten wurden nicht zur Kenntnis genommen. Besonders in Kreisen, die den evangelischen Kirchen nahe standen, wurden den Vertriebenen die Schuld an dem in den östlichen Nachbarländern erhobene “Revisionismusvorwurf“ gegeben. Sie glaubten, der Verzicht auf das Recht auf Heimat würde quasi automatisch zu guten Beziehungen zu den Nachbarvölkern und Staaten im Osten führen. Sie übersahen, dass auch in Westeuropa weiterhin Angst vor Deutschland weit verbreitet war, obwohl hier der "Revisionismusvorwurf" keine Rolle spielte. Noch 1990 versuchten Frankreich und insbesondere England die Wiedervereinigung zu verhindern. Sie übersahen, dass der “Revisionismusvorwurf“ nur eines von vielen Instrumenten des "Kalten Krieges“ war, dass bei Bedarf durch ein anderes ersetzt worden wäre.
Völlig unbeachtet blieb auch, dass die schrecklichsten deutschen Verbrechen - der Holocaust und die Ermordung von Kranken, Behinderten, streng gläubigen Christen und politischen Gegnern - in keinem Zusammenhang mit der Vertreibung standen.
Derartige Argumente wurden ignoriert, weil man sich andernfalls tiefere Gedanken über die deutsche Schuld hätte machen müssen. Als Vorwand verwies
man darauf, dass unter den Unterzeichnern der Charta eine Reihe alter Nazis war. Diese Kritik war kurzsichtig. Nach dem Krieg fanden alte Nazis
nicht nur in den Organisationen der Vertriebenen, sondern in fast allen Bereichen der Bundesrepublik – und wie wir heute wissen sogar in der DDR –
Wiederverwendung, ohne dass die Einrichtungen diskreditiert waren. Dies war leicht erklärlich. Die Verbindungen und Kontakte der Gegner und
Kritiker des Nationalsozialismus waren während seiner Herrschaft unterbrochen, aber diejenigen, die bei Kriegsende Führungspositionen inne gehabt
hatten, nutzten ihre Verbindungen, um sich zu rehabilitieren.
Vermutlich war unter den Vertriebenen, die vor 1939 außerhalb Deutschlands gelebt hatten, ihr Anteil betrug fast 50 %, die Abneigung gegen über
alte Nazis sogar höher als unter der übrigen Bevölkerung; denn in der Regel wurden diese "Volksdeutschen“ während der NS-Zeit schlechter behandelt
als die “Reichsdeutschen“. In der Landsmannschaft Weichsel/Warthe, der Landsmannschaft der Deutschen aus Polen, gab es eine Reihe von Fällen, bei
denen alte Nazis ausdrücklich aufgefordert wurden, nicht an den Veranstaltungen der Landsmannschaft teilzunehmen.
Unbestritten ist inzwischen auch unter den Vertriebenen, dass die Autoren der Charta es versäumt haben, gegenüber den Vertriebenen anderer Völker und den Opfern des Nationalsozialismus Mitgefühl auszudrücken. Erklären kann man dies Verhalten mit dem Hinweis, dass das selbst erlittene Leid und die andauernde akute eigene Not die Menschen so gefangen nahmen, dass sie sich mit fremdem Leid nicht befassen konnten. Zwar war der größte Teil der deutschen Bevölkerung aus den Staaten Mittel- und Osteuropas bereits vertrieben worden, aber Millionen Deutsche, unter ihnen vermutlich Verwandte und Bekannte der Autoren der Charta, vegetierten nach wie vor außerhalb der beiden deutschen Staaten im Machtbereich des Stalinismus. Gegen sie dauerten die Vertreibungsmaßnahmen an. Angesichts von rund 2 Millionen Vertreibungsopfern, zunächst wurden noch höhere Opferzahlen angenommen, musste man sich über ihr Schicksal große Sorgen machen. Außerdem kämpften auch in den beiden deutschen Staaten die meisten Vertriebenen selbst noch ums Überleben. Sie waren in Notunterkünften, in Wellblechbaracken und Scheunen untergebracht. Die "Wohnungen“ der Familien war nur durch aufgehängte Kartoffelsäcke voneinander abgetrennt. Viele von ihnen litten an Unterernährung.
Im Übrigen dauerte es auch bei den Nichtvertriebenen einige Jahre, bis sie begannen das ganze Ausmaß der während des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen zu begreifen und Empathie für die Opfer zu entwickeln.
Übersehen wurde auch, dass die Vertriebenen trotz aller Enttäuschungen keine Unterstützer rechtsextremer Parteien wurden. Führenden Vertreter der Vertriebenen erinnerten in ihren Reden daran, dass die deutschen Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg die ersten groß angelegten systematischen Vertreibungen fremder Völker begangen hatten und die Umsiedlung deutscher Minderheiten im Rahmen der Aktion "Heim ins Reich" nur eine verschleierte Vertreibung war.
In der DDR waren die Vertriebenen “Unpersonen“. Zusammenkünfte konnten nur im Untergrund stattfinden. Im öffentlichen Leben spielten sie keine Rolle. Nach der friedlichen Revolution rezipierte die öffentliche Meinung in den neuen Ländern die Bewertung der Vertriebenen aus der BRD, obwohl es gerade hier angebracht gewesen wäre, die Vertriebenen differenziert zu beurteilen. Die in der ehemaligen DDR neu gegründeten Vertriebenenorganisationen haben zu keinem Zeitpunkt eine Rückkehr in die Heimatgebiete verlangt, sondern sich seit ihrer Gründung auf die Pflege ihres kulturellen Erbes und Fahrten, insbesondere Hilfsaktionen, in ihre Heimatsgebiete beschränkt. Ihre Aufgabe war “Erinnerung und Begegnung“. Beide Ziele befinden sich in Übereinstimmung mit einem wohlverstandenen öffentlichen Interesse. Die Pflege des kulturellen Erbes der Vertriebenen bereichert das kulturelle Leben in Deutschland. Angesichts des geringen Interesses der deutschen Bevölkerung an den Menschen in den östlichen Nachbarstaaten sollten alle, die einem friedlichen Miteinander in Europa interessiert sind, den Vertriebenen dankbar sein, dass sie diese Kontakte pflegen.
In den vergangenen Jahren haben fast alle Staaten - Polen, Russland und Tschechien ausgenommen -, aus denen die Deutschen vertrieben wurden, entweder diese Vertreibung bedauert oder sogar die Rückkehr in die Heimatgebiete ermöglicht. Zu nennen sind hier Kroatien, Serbien, Ungarn, Rumänien, die Slowakei, Litauen, Lettland und Estland. Die Länder, die den Vertriebenen eine Rückkehr ermöglichen wollten, waren überrascht und enttäuscht, dass nur in ganz wenigen Ausnahmefällen ihre Angebote angenommen wurden.
Eingedenk der aufgeführten Tatsachen bleibt es völlig unerklärlich, warum das öffentliche Wirken der Vertriebenen, dass mit der Charta der Heimatvertriebenen vor 64 Jahren begann, nicht als Beitrag zur Herstellung einer Friedensordnung in Europa gewürdigt wird.
Wie wichtig es ist, sich über die Bedingungen eines friedlichen Miteinanders der Staaten und Völkern Gedanken zu machen zeigt ein Blick in die Geschichte: Vor 150 Jahren begann der deutsch-dänische Krieg; vor 100 Jahren starb die Trägerin des Friedensnobelpreisträgerin, Bertha von Suttner; wenige Wochen nach ihrem Tod begann der 1. Weltkrieg; vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg; vor 70 Jahren wurde der Warschauer Aufstand niedergeschlagen und ganze Stadtviertel vom Kleinkind bis zur Greisin ermordet.
Die Waffentechnik hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg enorm weiterentwickelt. Sie hat einen Stand erreicht, den wir vor wenigen Jahren nur aus Science-Fiction-Romanen kannten. Die Fähigkeiten der Menschen, Friedenspolitik zu betreiben, sind nicht besser als im Neolithikum, als sie noch mit Faustkeilen um Beute kämpften. Es bestehen daher genügend Gründe, sich um eine Weiterentwicklung auf diesem Gebiet zu bemühen und entsprechende Beiträge anzuerkennen und nicht zu verleumden.
Beiträge von Landsleuten und Vereinsfreunden
Die Folgenden Beiträge sind von dieser Seite aus zu erreichen:
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Überlegungen aus Anlass von 60 Jahren Bundesvertriebenengesetz,
von Prof. Dr. Matthias Stickler
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Der Evangelisch-lutherische Kirchengesangsverein „Harmonia“ in Konstantynow,
von Dipl.– Gwl. Armin Hirsekorn
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Die Erinnerung bewahren,
von Irmtraut Schirotzek
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Faltblatt zur Wanderausstellung
„Unsere neue Heimat - Sachsen“
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Die Wahrung des gemeinsamen kulturellen Erbes in Ost-Mitteleuropa,
Bestandsaufnahme und Perspektiven, von Dr. MARTIN SPRUNGALA